9/11 war ein sonniger Tag

Meditationscoach

Diesen Text schrieb ich im November 2001. Er wurde in mehreren deutschen Medien (immer in verschiedenen Varianten) publiziert. Diese Variante ist die persönlichste.

Am frühen Morgen des 11. September 2001 sprang ich panisch aus dem Bett der kleinen Wohnung in der 105th Street auf der Upper West Side New York, die ich mir mit meinem Freund teilte. Es war 8.15 Uhr und ich hatte eine halbe Stunde verschlafen. Meine Kollegen von der TV-Produktion waren sicher schon auf dem Weg in Richtung Downtown, wo wir uns vor dem Kaufhaus „Century 21“, gegenüber der Twin Towers, treffen wollten. Als Produktionsassistentin hätte ich dafür zu sorgen, dass Kaffee vor Ort war – und zwar vor allem anderen. Heiß und je nach Gusto mit Namen auf dem Pappbecher. Genauso wie man das aus den Filmen kennt. Doch das war nicht das einzige, was an dem Tag nicht geplant ablaufen sollte.

Jeder weiß detailgenau, was er am 11. September 2001 gemacht hat. Meine Mutter etwa war an diesem Tag alleine in ihrer kleinen Boutique in einem Vorort von Frankfurt. Mein Vater war beruflich unterwegs und die Tochter war vor Monaten nach New York gezogen. Als eine Kundin um kurz vor zwei Uhr mittags (ihrer Zeit) die Boutique betrat, und sie fragte, ob sie das mit dem Flugzeug, das in das World Trade Center geflogen sei, gehört hätte, begannen für meine Mutter nervenaufreibende Stunden des Wartens. Warten darauf, dass endlich wieder ein Freizeichen beim Wählen meiner Us-amerikanischen Handynummer ertönte.

Der 11. September in New York war ein sonniger, warmer Spätsommertag und der Himmel strahlte blau und klar über der Skyline – bis um 8.46 der American-Airlines-Flug 11 in den Nordturm flog und die Skyline am Ende von Manhattan mit einem zu Beginn noch gerade aufsteigenden schwarzen Rauchschweif durchzog. Durch die ersten Sirenen geweckt, stand dann auch mein Freund auf. Zuerst sah er aus dem Fenster, da die Sirenen auch nahe zu unserer Straße schienen, dann schaltete den Fernseher ein. Er machte Kaffee und beobachtete den brennenden Turm. Zu diesem Zeitpunkt ging man noch von einem größeren Sportflugzeug aus. Dass keiner der 86 Passagiere, die in dem Flugzeug saßen, den Aufprall überlebt hatte, das wusste man zu diesem Zeitpunkt nicht. Als ich aus der Dusche sprang und mich anzog, sagte mein Freund noch zu mir, jetzt hätte ich eine gute Ausrede für das Zuspätkommen, da der Verkehr runter nach Downtown sicher verzögert würde.

Und er hatte recht. Aus Zeitgründen sprang ich sofort in ein Taxi, das vorbei kam. Allerdings kamen wir wegen eines erstes Staus nur bis zum Plaza, am unteren Ende des Central Parks. Ich stieg aus. Der Taxifahrer meinte noch zu mir, ich solle – wenn es irgendwie geht – nicht nach Downtown fahren. Er hätte über Funk gehört, da würden brennende Teile aus dem Hochhaus fallen. Ich versuchte das Team zu erreichen, doch ich bekam kein Freizeichen.

Ich entschied in unser Büro auf der 5th Avenue zwischen den 29. und 30. Straße zu fahren und ging die Stufen zur Subway herab. Während ich in der U-Bahn saß, flog die zweite Maschine in den Südturm, was den Menschen über der Erde klar machte, dass es sich um einen Anschlag handelte. Warum genau die U-Bahn stoppte, weiß ich bis heute nicht. Vermutlich aber wegen einer Bombendrohung, von denen es in den nächsten Tagen noch tausende geben sollte. Ich wurde in der Woche danach noch zwei Mal in einem Bus und ein Mal im Büro evakuiert. Gemeinsam mit etwa hundert anderen New Yorkern verließ ich die U-Bahn, darum hatte uns der Fahrer in einer Durchsage gebeten. Ich ging ich also die letzten etwa 200 Meter durch den Tunnelschacht zu Fuß bis zur nächsten Station zu Fuß. Vorneweg der Fahrer, der sicher die Anweisung erhalten hatte uns sofort dort herauszuführen. Seltsamerweise war ich in diesem Moment recht ruhig, nur gestresst weil ich immer noch an den Dreh dachte, der sich am Tag zuvor bereits verzögert hatte – und wir mussten das Material doch bis Donnerstag Abend im Schneideraum haben. Dass mich dieser Moment in dem U-Bahnschacht Jahre später noch einmal einholen sollte, hätte ich an diesem Dienstagmorgen nie gedacht.

Als ich an der Oberfläche ankam war es viertel nach neun und ich hatte gerade von einem Mann in schlecht sitzendem Anzug erfahren – den ich vorher noch nie gesehen hatte – dass vor wenigen Minuten, genauer gesagt um 9:03 Uhr, ein weiteres Flugzeug in die Türme geflogen sei. „It’s an attack, dear. They want to kill us. We have to leave the city…“ In dem Moment wollte ich meine Eltern anrufen und ihnen sagen, dass alles in Ordnung sei, doch mein Handy funktionierte nicht.

Danach konnte ich kaum noch etwas verstehen,, was an den ohrenbetäubenden Sirenengesängen der Polizei- und Feuerwehrwagen, die in einem Wahnsinnstempo in Richtung Downtown rasten, lag.  Um kurz vor zehn kam ich im Büro an, wo ich meinen aufgelösten Chef vorfand, der versuchte das Kamerateam am Handy zu erreichen. Kelly, gute Selle des Büros, und ein paar Kollegen standen vor dem Fernseher – ich kam gerade rechtzeitig, um zu sehen, wie um 9:59 Uhr der erste Turm einstürzte. Ich kann mich noch an das Geschrei der Moderatorin „Oh my God!“ erinnern, als das Hochhaus wie in einer Roland Emmerich Produktion zusammenklappte.

Wirklich realisiert, dass ich mitten im Geschehen, dass die ganze Welt live am Bildschirm mitverfolgte, saß, habe ich in dem Moment, als wir dann auf das Dach des Bürohochhauses auf der 5th Avenue (zwischen Flatironbuilding und Empire State Building) gingen und ich den schwarzen Schweif nur wenige hundert Meter vor mir sah. Als um 10:28 Uhr der Südturm des Wolrd Trade Centers, in dem ich zwei Tage vorher noch mit meinem Freund am Abend gegessen hatte, vor uns einstürzte, wurden meine Knie weich. Mein Chef sagte: „Ihr geht jetzt alle nach Hause. Wer weiß, wo die nächste Maschine einschlägt“ und blickte dabei auf das Empire State Building, nur vier Blocks hinter uns.

Um 11 Uhr lief ich gemeinsam mit einem Strom von Menschen, einige weinend, die 5th Avenue und den kompletten Central Park auf der Westseite hinauf, bis ich etwa eineinhalb Stunden später in meinem Apartment ankam. Busse und U-Bahnen fuhren nicht mehr in meine Richtung. Und auch Zivilflüge durften nicht mehr starten. Dafür schossen im Minutentakt Abfangjäger über New York.

Mit meinem damaligen Freund, einem Amerikaner, der an diesem Morgen zum Patrioten mutierte, und ein paar Bewohnerinnen unseres Hauses, verbrachte ich den restlichen Tag  auf dem Dach unseres Apartments. Halb New York hatte sich den Dächern versammelt, um auf die mittlerweile schwarze Staubwolke am Ende von Manhatten zu starren.

Mein Chef war der erste, der mich am Handy anrief, um mir mitzuteilen, dass den Kollegen unten vor Ort nichts passiert sei und er es mir frei stellt morgen ins Büro zu kommen. Meine Mutter kam ein paar Stunden später durch. Ich weiß noch, dass ich versuchte, sie zu beruhigen als sie zu mir sagte, sie hätte sich doch immer nur gewünscht, dass ich keinen Krieg miterlebe. Ich konnte ihre Worte zu diesem Zeitpunkt noch nicht wirklich verstehen, da ich mich – so wie ich heute weiß – an diesem Tag im Schockzustand befand. Ich weiß noch, dass ich die Ereignisse um mich herum zwar wahrgenommen habe, aber dennoch davon gesprochen habe, dass wir bis Donnerstag noch die Dreharbeiten abschließen müssen. Dass ich den ganzen Tag über Todesangst hatte, genau so wie viele New Yorker, weil wir nicht wussten, ob und wenn ja, wo der nächste Anschlag passieren würde, war mir nicht bewusst. Dass ich bis morgens um 5 Uhr nicht schlafen konnte, schob ich auf den Krach, den die Hubschrauber, die im 30-Minuten-Takt im Tiefflug durch die Straßen streiften, um diese auszuleuchten.

Am nächsten Morgen fuhr ich mit dem Bus ins Büro. Ausgestiegen bin ich wieder unfreiwillig auf der Höhe vom Plaza, Bombendrohung die zweite. Im Büro angekommen fand ich nur wenige Kollegen vor. Mein Chef war bei Elisa aus dem Marketing zuhause, um sie zu trösten. Sie vermisste ihren Bruder, der, wie wir später erfahren sollten, im zweiten Turm ums Leben gekommen war. Einer von 2.982 Menschen, die am Tag zuvor, nur wenige hundert Meter von mir umgekommen waren.

Doch nicht nur, dass man von Freunden und Bekannten hörte, die Menschen vermissten, man sah sie auch. An Hauswänden, Mauern und extra errichteten Holzzäunen. Nur einen Tag später säumten hunderte Fotos von vermissten Personen die Straßen. New York war tapeziert mit Hochzeitsbildern, Jahrgangs-Abschlussfotos, privaten Familienbildern mit Hunden und Katzen oder Bewerbungsfotos – alle mit kleinen, handgeschriebenen Zetteln bestückt, auf denen Namen, Adresse und eine Kontaktnummer stand, falls ein anderer diesen Menschen sehen oder verletzt finden würde. Dazu Blumen und Stofftiere am Boden niedergelegt.

Der Feuerwehrmann, der mich so fest umarmte, dass er gar nicht merkte, wie er mich vom Boden hochhob, war von oben bis unten voll mit weißem Staub. Er kam gerade von Ground Zero, wie man den Platz, an dem die Twin Towers standen, erst später bezeichnete. Er hatte sicher versucht einige der vermissten Gesichter auf den Straßenzügen zu finden. Doch ergebnislos. Das einzige, was ich tun konnte,, war Lebensmittel und Wohnungsuntensilien zu sammeln für all jene, die den Tag zuvor überlebt aber dennoch ihre Wohnung verloren hatten. Etliche Hochhäuser um die zwei Türme herum waren nicht mehr bewohnbar.

Gemeinsam mit meinem Freund bin ich am Abend des 12. September nach Downtown gefahren, da ich den Drang hatte, das Gesehene der letzten Tage mit eigenen Augen zu sehen. Wir kamen aber nur bis zur Sperre in der 14. Straße – doch das reichte schon. Am Tag danach wurde der ganze Bezirk bis hoch zur 22. gesperrt, was ich zu dem Zeitpunkt auch bereits gut nachvollziehen konnte. Wir spazierten in knöchelhohen Staubschichten durch die Straßen. Überall Papier, Aktenstücke, geschmolzenes Plastik, ein ausgebranntes Taxi, dunkle Schmiere an den Fenstern der Lokale und dann dieser Geruch. Wir bekamen von den Feuerwehrmännern Atemmasken aus Stoff, sonst hätten wir es nicht ausgehalten. Nicht nur, dass es schwer fiel zu atmen, es roch zudem sehr unangenehm. Zum Teil nach Kerosin, zum Teil aber auch anders. Ein Freund, der lange Zeit in seiner Jugend als Zivildiener gearbeitet hatte, erzählte mir einmal, „den Geruch von toten Menschen erkennst Du instinktiv und Du kriegst du nie wieder aus der Nase.” An diesem Abend wusste ich, was er meinte.

Zum Glück hatte ich meinen Rückflug Anfang Oktober bereits im Augusgt gebucht – ich wollte noch mein Studium in Hamburg zu beenden. Hätte ich den Flug nicht gehabt, hätte ich sicher noch Wochen länger warten müssen, um einen freiem Flug zu bekommen. Alle, die weg konnten, wollten erst einmal raus aus New York. Vielleicht auch einfach weil die Stadt für Tage nach dem Anschlag gesperrt war und das ein klaustrophobisches Gefühl auslöste.

Als ich dann wirklich ein paar Wochen später weg flog, fiel es mir dann doch sehr schwer die Stadt zu verlassen. Am 11. September war etwas geschehen, auch mit mir. Zum einen hatte ich mich Tage lang unsicher gefühlt, nicht gewusst was als nächstes kommt, wie es weitergehen würde mit dieser Stadt, die ein solch schweres Schicksal erlebt hatte. Und zum anderen war da dieses Gemeinschaftsgefühl, das ich erfahren hatte. Ich hatte mich als New Yorkerin gefühlt. Und die New Yorker fühlten sich als Einheit. Das hatte ich vorher so nicht erlebt.

Als ich am dritten Tag nach dem Anschlag mit drei Kaffee auf einer Treppe vor einem Hauseingang auf das Kamerateam wartete, schaute ich auf den Boden vor mir. Ich hatte den Kopf leicht gesenkt, eines der Bewerbungsfotos hatte sich wohl von einer Holzwand gelöst und tanzte nun über die Straße. Vor mir hielt ein Bus an und eine recht üppige, afroamerikanische Busfahrerin schaute mich an. Sie lehnte sich aus dem geparkten Cockpit ihres Vehikels, und fragte mich: „Is everything allrigt, honey?“ Das war der Moment, an dem ich zum ersten Mal zu weinen begann.