Im Jahr 2013 durfte ich in meiner Funktion als Journalistin mit Fair Trade Österreich in den Norden von Indien reisen, um mir selbst ein Bild über das Gütesiegel, das für fairen Handel steht, zu machen. Ich stieg kritisch in das Flugzeug ein und kam überzeugt zurück. Einer der Beiträge, die ich danach schrieb – und der immer noch aktuell ist:
Wie fair ist Fairtrade?
Das erste Produkt, das es in Deutschland und Österreich mit dem Fairtrade Gütesiegel zu kaufen gab, war Kaffee. Heute, knapp 30 Jahre später, ist das türkis-grüne Logo weltweit das bekannteste Sozialsiegel für fairen Handel und prangt auf mehr als tausend verschiedenen Produkten in etwa 80 Ländern. Tendenz steigend. Doch was kann man von einem Konzept des fairen Handels in Zeiten der Globalisierung erwarten? Ein Blick hinter die Kulissen der Produktionskette von indi- scher Fairtrade-Baumwolle zeigt, wo Kritik anzusetzen wäre.
„Gerade in Bezug auf die Baumwollproduktion müssen wir uns immer wieder mit äußerst kritischen Stimmen zu den teils miserablen Produktions- umständen in Staaten wie Indien
auseinandersetzen“, erläutert Hartwig Kirner, Geschäftsführer Fairtrade Österreich. Wir werden gefragt, warum wir uns vor fünf Jahren entschieden haben, ein derart heik- les Segment in unser Sortiment aufzunehmen. Die Antwort ist jedoch ganz einfach: Gerade deshalb. Gerade, weil in den ärmsten Ländern Druck auf Kleinbauern, Produzenten und Zulieferer ausgeübt wird, damit diese noch billiger produzieren – was zu noch mehr Armut und unsichere Arbeitsverhältnissen führt –, müssen wir uns des Themas annehmen.“
Baumwolle mit dem Fairtrade-Siegel stammt nicht nur aus Indien, sondern auch aus Westafrika und aus Brasilien. Um einen besseren Einblick in die Produktionskette zu liefern, lud Fairtrade Ende vergangenen Jahres zu einem Lokalaugen- schein zu den Baumwollfeldern in den Osten Indiens. Gemeinsam mit Hartwig Kirner, Andrea Reitinger von den EZA- Weltläden und österreichischen Pressevertretern traf man einander unter einem großen Baum inmitten des Dorfes Kumkal, um sich von den Baumwollbauern vor Ort die Arbeits- und Lebensumstände schildern zu lassen.
Sechs von den etwa 15 Bauern sind seit rund einem Jahr Faitrade-zertifiziert und haben bei der vorigen Ernte je 4150 Rupien für einen Zentner Baumwolle er- halten. Alle anderen haben für dieselbe Menge nur 3500 Rupien erhalten. Deshalb wollen nun auch die anderen Bauern in das Fairtrade-System einsteigen.
„Der größte Ansporn, sich zertifizieren zu lassen, ist der so genannte Fairtrade- Mindestpreis“, erklärt Ramprasad Sana, Program Officer von Chetna Organic, wäh- rend einer holprigen Jeepfahrt über eine ungeteerte Straße, die durch die Regenzeit tiefe Schlaglöcher hat.
Die Chetna Organic Farmer Association wurde 2004 von ein paar hundert Kleinbauernfamilien gegründet, heute zählen rund 10.000 Farmer, wie sie genannt werden, dazu. Die Idee der Kooperative ist es, durch die Umstellung auf Bio-Anbau, den Lebensstandard der Baumwollfarmer in Indien nachhaltig zu verbessern. Seit 2005 ist Chetna Organic Faitrade-zertifiziert.
„Der Fairtrade Mindestpreis ist wie ein Sicherheitsnetz nach unten“, sagt Ramprasad. „Fällt der Welt-Baumwollpreis unter die Fairtrade-Richtlinie, wird dennoch der Mindestpreis ausbezahlt. Liegt der Marktpreis über dem Mindestpreis, ist der höhere, also der Marktpreis vom Händler an die Produzentengruppe garantiert.“ Zudem erhalten die Kooperativen und Genossenschaftsverbände eine Fairtrade-Prämie, die derzeit etwa 0,05 Euro pro Kilo Baumwolle beträgt, plus einen Bio-Aufschlag.
Unter den Baumwollbauern in Indien hat sich herumgesprochen, dass man mit der Bio-Baumwolle Geld verdienen kann.
„Ein Kritikpunkt an Fairtrade ist, dass wir in den Markt eingreifen würden“, erklärt Hartwig Kirner bei der Ankunft in einem anderen Dorf namens Thimra im Bundesstaat Odisha. Da die Bauern durch Fairtrade eine gewisse Preisstabilität geboten bekommen, wollen sie nur mehr Baum- wolle anbauen, beziehungsweise je nach Land nur mehr Kaffee, Tee, Bananen oder Rosen. „Auch, wenn so mancher von ei- nem perfekten Markt träumt, müssen wir realistisch bleiben“, sagt der Fairtrade Österreich-Geschäftsführer. „Baumwolle mit dem Fairtrade-Zeichen macht derzeit ein
halbes Prozent der gesamten Baumwollernte Indiens aus – da bleibt also noch viel Spielraum nach oben.“
Indien ist nach China der weltgrößte Produzent von Baumwolle und steht beim Export an dritter Stelle hinter den USA. Die Baumwolle gilt zwar als „weißes Gold“, die Bauern verdienen jedoch nicht mit an dem flauschigen Schatz. In den 1970er- Jahren führten Konzerne hybrides Baum- woll-Saatgut ein, eine Kreuzung der besten Pflanzen. Mittlerweile fällt 90 bis 95 Prozent des angebauten Saatgutes in In- dien in die Kategorie von GMO-Baumwolle (GMO steht für genetically modified organism). Die Samen der GMOs lassen sich allerdings nicht für die Aufzucht neuer Stöcke verwenden, was wiederum bedeutet, dass die Farmer etwa 25 Prozent ihres Gewinnes in das hybride Saatgut zurückinvestieren müssen.
Ist die Ernte schlecht, können sie nicht mehr in die nächste Aufzucht investieren und verlieren somit ihre Existenzgrundlage.
„In den vergangenen 16 Jahren haben sich über 260.000 Farmer in Indien umgebracht“, berichtet Kavitha Kuruganti von der Alliance for Sustainable & Holistic Agriculture (ASHA) bei einem Ge- spräch in Bangalore, der drittgrößten Stadt Indiens.
Um der Schuldenfalle – aber auch der Schmach „versagt“ zu haben – zu entkommen, wählen viele als letzte Instanz den Freitod, indem sie Pestizide schlucken. Die Pestizide stammen von denselben Großunternehmen, die auch die Baumwoll-Klone herstellen. Aus Angst vor Missernten und Schädlingsbefall setzen die Farmer auf die Wirkung der kostspieligen Chemiebomben, die Turbowachstum versprechen. Daher werden 50 Prozent aller Pestizide in Indien auf den Baumwollfeldern eingesetzt, obwohl diese wiederum nur fünf Prozent der gesamten Agrarflächen ausmachen.
Auch der Farmer Radhakanthosa aus dem Dorf Thimra, bei dem die Gruppe aus Österreich zum Mittagessen eingeladen ist, hat die Pestizide auf seinen Baumwollfel- dern eingesetzt. Das war früher, jetzt hat er seine Vorgehensweise überdacht, denn „damals sind im Dorf alle Ziegen gestorben“, erzählt er und zeigt auf eine kleine Herde, die im Schatten eines Baumes am Rande des Feldes glücklich grast. Daraufhin habe er echte Überzeugungsarbeit geleistet und die anderen Bauern in der Umgebung da- rüber aufgeklärt, wie schlecht Pestizide seien. Seit fünf Jahren ist er in der Chetna Kooperative und baut ausschließlich biologische Baumwolle an.
Darüber freut sich auch Blem Shila. Die Baumwollpflückerin trennt seit 16 Jahren die Baumwollbälle mit ihren Fingern aus den Kapseln der kratzigen Sträucher, die auf ihre Arme viele narben gezeichnet ha- ben. Von der Umstellung auf Fairtrade profitiert die 35-Jährige insofern, als dass sie nicht mehr den gesundheitsschädlichen Düngemitteln ausgesetzt ist; auch ihre Arbeitszeiten werden nun eingehalten. Finanziell gesehen bleibt für sie und alle an- deren Saisonarbeiter alles wie zuvor.
Die verpflichtenden Kernkriterien für Fairtrade-Kooperativen beziehen sich vor allem auf die Produktionsanforderungen wie etwa Richtlinien zu biologischem Anbau und zu Arbeitsbedingungen.
Arbeitszeiten samt Mittagspausen müssen eingehalten werden, Kinderarbeit ist verboten. Es gibt ein Recht auf Versammlungsfreiheit und ein Verbot von Diskriminierung. Auf die Bezahlung von externen Arbeitern, die von den Bauern selbst beauftragt werden, nehmen die Fairtrade-Bedingungen jedoch keinen Einfluss.
„Die Richtlinien von Fairtrade können nicht die grundlegenden Probleme bei Kurzarbeitsverträgen oder Bezahlungen lösen. Weder bei der Baumwollernte in In- dien noch bei der Bananen- oder Kaffeeernte in Afrika oder Costa Rica“, erläutert Kirner. „Auch in Österreich gibt es bei kurzen Ernteeinsätzen, wie etwa beim Spargelstechen, nicht immer nur formelle Arbeitsverträge.“ Das primäre Anliegen von Fairtrade sei es, die Farmer, also die Ko- operativen an sich, zu stärken. Etwa da- durch, dass die Aufzucht des Saatgutes wieder zurück in die Hände der Bauern gelegt wird, was nicht so leicht ist, da die Hybridsamen selbst gezüchtet werden müssen. „Auf einigen Farmen laufen dazu bereits Tests. Und wenn alles gut geht, können die Bauern schon im nächsten Jahr ihre eigenen Samen anbauen“, sagt Ramprasad Sana, Programm Officer von Chet- na Organic. „Das wäre ein großer Schritt in Richtung Selbstbestimmung.“ Zudem bestimmen die Bauern selbst, wofür die von Fairtrade ausgeschütteten Prämien eingesetzt werden. In Thrimra, erzählt Bauer Radhakanthosa, wurde von dem verdienten Geld eine Linsenmühle für das Dorf, eine Lagerhalle sowie ein Versammlungsraum für Schulungen finanziert.
„Fairtrade-Prämien werden auch für den Bau von sozialen Einrichtungen wie etwa Krankenhäuser, Schulen oder Straßen in- vestiert. Im Notfall werden sie aber auch einfach ausbezahlt“, ergänzt Ramprasad.
Auch wenn die Saisonarbeiterinnen in den selben oder benachbarten Dörfern wie die Fairtrade-Baumwollfarmer leben und daher von deren Errungenschaften profitieren, müssen sie mit einem Tageslohn von etwa 100 Rupien, umgerechnet etwa 1,39 Euro auskommen. In der Hoffnung auf eine bessere Bezahlung wandern sie daher in die großen Städte aus, um dort zum Beispiel in den Textilfabriken, in denen bis zu 50.000 Menschen pro Werkstätte beschäftigt sind, zu arbeiten. Alleine in Bangalore gibt es rund 1,5 Millionen sol- cher Arbeiterinnen. „Die Frauen arbeiten meist ohne Vertrag“, erklärt Laura Ceresna-Chaturvedi von Cividep-India, eine nGO, die sich für die Rechte der Arbeiter einsetzt.
„Die Textilproduzenten üben enormen Druck aus, indem sie die zu produzierenden Stückzahlen immer weiter erhöhen.“
Wird die Soll-Stückzahl nicht geschafft, muss die Arbeiterin bleiben, bis die Arbeit erledigt ist. „So fallen viele un- bezahlte Überstunden an. Zudem gibt es viele sexuelle Übergriffe, denen die Frau- en schutzlos ausgeliefert sind.“ Die Sicherheitsvorkehrungen in diesen Fabriken, die meist für ausländische Auftraggeber aus Europa oder den USA arbeiten, sind mise- rabel. Brände und Unfälle, wie sie zuletzt auch durch die Medien gingen, sind an der Tagesordnung.
In solchen Fabriken wird mit großer Wahrscheinlichkeit auch Fairtrade-Baumwolle verarbeitet, was einen der größten Kritikpunkte an dem Baumwoll-Gütesiegel darstellt. Bei Kaffee, Bananen oder Rosen ist die Produktionskette einfacher und daher komplett nachvollziehbar. Der Kaffee wird gepflückt, in Säcke gepackt und nach Europa verschifft, wo er geröstet wird. Baumwolle ist ein Produkt, das – ähnlich wie Schokolade oder Fruchtsäfte – oft im Herkunftsland verarbeitet wird.
„In Indien gibt es nur sechs große Spinnereien, an die Bauern ihre Baumwolle verkaufen können. Kurzzeitig hat die indische Regierung sogar ein Exportverbot für Rohbaumwolle erlassen, um den Spinnereien die Rohstoffverfügbarkeit zu sichern“, erklärt Kirner. „Für das halbe Prozent Fairtrade-Baumwolle werden jedoch leider nicht die Arbeitsbedingungen in den Spinnereien oder den Textilfabriken geändert.“
Dafür kann man sicher sein, dass Textilien, die das österreichische Fairtrade- Gütesiegel tragen, aus hundert Prozent zertifizierter Baumwolle bestehen. Dieses garantiert zumindest die Nachvollziehbarkeit bis zur Kooperative, aus der die Baumwollfasern stammen. Derzeit diskutiert man bei Fairtrade eine Verwässerung der Richtlinien – nämlich, ob man vielleicht doch zulassen soll, dass Fairtrade Baumwolle mit nicht zertifizierter Baumwolle gemischt werden darf. Im Moment ist dies weder in Österreich, Deutschland noch in einem anderen EU-Land erlaubt. Ist also eine textile Ware als Fairtrade ausgewiesen, wurde sie wirklich unter den damit verbundenen Kriterien hergestellt. Aller- dings hat diese Stringenz auch Folgen: „Heute kann weltweit nur ein geringer Prozentsatz der zu Fairtrade-Bedingungen gewonnenen Rohstoffen auch zu wirklich fairen Bedingungen weiterverarbeitet wer- den. Da die Kosten für eine lückenlose Fairtrade-Produktion recht hoch sind“, er- klärt Kirner. Daher sei der Markt für Öko- Baumwollprodukte recht überschaubar.
2012 wurde in Österreich zwar gegenüber dem Jahr 2011 ein Umsatzplus bei Fairtrade-Baumwolle von 30 Prozent erreicht, Lizenzpartner gibt es hierzulande dennoch recht wenige. Große Partner sind etwa Vossen, die in erster Linie afrikanische Baumwolle für ihre Handtücher, Bademäntel und Duschmatten verarbeiten und Bet- ten Reiter mit Vorhängen und Bettbezügen.
Wird die Vermischung der Fasern zugelassen, sinken die Einkaufspreise für die Textilketten, womit deren Absatz im Regelfall steigt. „Letztlich ist es immer ein Abwägen der Parameter“, sagt der Fairtrade-Chef Kirner. „Unser Anliegen ist es natürlich, den Absatz der Fairtrade-Baumwolle zu steigern – was letztlich den Kooperativen und den Bauern zugute kommt, da sie größere Aufträge erhalten, beziehungsweise noch mehr von ihnen nach Fairtrade- Richtlinien anbauen.“
Ich war gerade nach meinem Besuch der Baumwollfelder von dem Prinzip Fairtrade überzeugt:
„Die organisierten Bio-Bauern und -bäuerinnen werden als Akteurinnen und Akteure in der Herstellungskette gestärkt. Der Fairtrade- Mindestpreis samt der ausgeschütteten Prämien schenkt eine finanzielle Sicherheit, die andere Systeme nicht bieten.“
Dieser Artikel erschien im Juni 2013 im profil, Österreich