Superkraft Achtsamkeit

Blog YES Meditation

Dieser Artikel ist 2019 erschienen.

Was wird heute wohl Wunderbares geschehen? Wer wird mir begegnen? Werde ich im Laufe des heutigen Tages etwas Neues erlernen? Das sind wahrscheinlich nicht die Fragen, die uns morgens beim Auf- wachen als Erstes einfallen. Bei den meisten setzt das Gedankenkarussel ein: Arbeiten, Essen, Meeting, Shoppen, Rechnungen einzahlen, mehr Termine ausmachen.

Der Autopilot-Modus läuft und der Teil unseres Gehirns, der für Gewohnheiten, also Gelerntes und Automatismen, zuständig ist, brummt fröhlich vor sich hin. Durch unseren All- tag bewegen wir uns in einem Gedankenstrom, der sich vor allem um zukünftige oder vergangene Aufgaben und Situationen dreht. Wie wir uns wirklich fühlen, was wir denken und was um uns herum passiert, bekommen wir nur unbewusst mit. In unserer westlich sozialisierten Kultur, die sehr schnelllebig und fordernd ist, haben wir verlernt, innezuhalten. Nur ganz selten kommen wir im Hier und Jetzt an. Selbst wenn wir uns eine Pause gönnen, wie etwa bei einem Wochenende im Wellnesshotel, ist unser Kopf trotzdem aktiv. Unser Körper ruht sich aus, während unser Geist plant, was wir in den nächsten Tagen zu erledigen haben – oder durch sämtliche Social- Media-Kanäle stöbert.

Wertewandel: Im Osten viel Neues

Sicher, unser Geist ist ein wichtiges Werkzeug, und schlaue Gedanken und Pläne sichern unsere Existenz. Das bedeutet jedoch nicht, dass unser Kopf dafür rund um die Uhr beschäftigt sein muss. Wir gönnen dem Körper Ruhepausen, und wir wissen, eine ausgewogene Ernährung hält uns fit und gesund. Also warum kümmern wir uns nicht ebenso aufmerksam um unseren Geist?

Die kollektive Sehnsucht in unserer Gesellschaft nach Ruhe und dem Ausstieg aus dem Autopiloten zeigt sich vor allem darin, dass wir uns immer mehr Inspiration aus der östlichen Kultur in unseren westlichen Alltag holen. Gerade im Buddhismus und im Hinduismus gibt es viele Rituale und Techniken, um den Geist zu entspannen. Kein Wunder also, dass Yoga, Meditation und Achtsamkeit in unseren Breitengraden immer mehr Anhänger finden. Gerade Letztere, die Achtsamkeit, ist aktuell in aller Munde. Sie scheint eine neu entdeckte Superkraft zu sein, eine Art Seelenfutter, dass uns helfen soll, ein entspanntes und glückliches Leben zu führen. Nur was genau steckt eigentlich dahinter? Und vor allem: Was bringt sie uns?


Das Gute vorweg: Die Superkraft Achtsamkeit haben wir alle in uns. Die kleine Hürde: Wir Erwachsenen haben sie meist verlernt.
Achtsamkeit ist eine besondere Form der Aufmerksamkeit. Ein Bewusstseinszustand, der es erlaubt, jede innere und äußere Erfahrung im gegenwärtigen Moment vorurteilsfrei zu registrieren und zuzulassen.

So die Erklärung aus dem Buddhismus, dessen Anhänger die Achtsamkeit in der Meditation bereits seit über zweitausend Jahren praktizieren. Einfach ausgedrückt: Achtsamkeit ist eine Form von Konzentration, bei der man ganz bewusst wahrnimmt, was im gegenwärtigen Moment ist, ohne es zu beurteilen. Sie ist also das Gegenteil des Autopilot- Modus. Achtsam sein heißt, voll da zu sein. Sich selbst genau beobachten samt seiner Eindrücke und Gefühle. Bin ich gerade froh oder gestresst, bin ich gelangweilt oder frustriert? Auch die Umgebung wird mit allen Sinnen ganz bewusst wahrgenommen.

Plötzlich sieht man Blümchen im Rinnstein, spürt den Wind im Gesicht oder den Sonnenschein auf der Nase, hört zwitschernde Vögel, Stimmen im Hinter- grund, Sonnenschein auf der Nase …

Mit Achtsamkeit zurück zum inneren Kind

Wenn wir Kinder beobach ten, dann bewundern wir an ihnen oft die Fähigkeit, sich über Dinge zu freuen, die wir selbst als selbstverständlich hinnehmen. Ihr Trick: Kinder leben im Moment. Sie machen sich keine Langzeitsorgen oder planen die nächsten Wochen voraus. Sie bewerten ihre Gefühle auch nicht, so wie wir Erwachsenen das oft tun. Wenn sie sich freuen, machen sie sich keine Gedanken darüber, wie lange diese Freude wohl anhalten mag. Oder dass sie vielleicht das Zimmer später aufräumen müssen, in dem sie gerade spielen. Sie kosten jede Minute einfach voll aus. Und das in der Regel völlig kostenlos! Natürlich haben Kinder (in unserer Gesellschaft) generell auch weniger Sorgen als wir Erwachsenen. Wir müssen uns um unseren Lebensunterhalt und oft auch um den der Kinder kümmern. Doch wenn wir ein- mal ganz genau in uns hineinhorchen und uns fragen: Ist denn jede dieser Sorgen tatsächlich berechtigt? Ist jede Anschaffung, die Geld kostet, nötig? Machen uns die Dinge, die wir manchmal für so wichtig halten, wirklich glücklich?

Durch das regelmäßige achtsame Wahrnehmen und Hinein-spüren geschieht etwas in uns, das uns nicht nur zum inneren Kind zurückführt, sondern vielleicht auch zu unserem wahren Ich. Durch achtsames Beobachten werden uns unsere Handlungsimpulse deutlicher. Die Hand greift automatisch zum Stück Kuchen, weil gerade Langeweile oder Frustration herrscht, und das, obwohl der Wunsch nach einer gesünderen Ernährung groß ist. Dasselbe geschieht sehr oft beim Kauf von Produkten, die wir im Grunde nicht wirklich brauchen.

Einfach sein, im Hier und Jetzt

Wir ahnen – oder wissen vielleicht bereits –, dass das „schnelle Glück“, wie es die Buddhisten nennen, nicht auf lange Zeit Zufriedenheit verspricht. Doch in unserem schnelllebigen Alltag übersehen wir dies sehr oft. Wir geben Geld aus für etwas oder investieren Zeit in Dinge – im achtsamen Zustand hätten wir vielleicht anders entschieden.

Durch das Praktizieren von Achtsamkeit werden sich Fragen wie „Brauche ich tatsächlich ein neues Smartphone?“ oder „Wo fliege ich dieses Jahr in den Sommerurlaub“ vielleicht auflösen.

Dafür werden neue entstehen, wie zum Beispiel „Wie schaffe ich es, mehr Zeit für mich zu haben?“ oder „Was brauche ich wirklich in meinem Leben?“. Durch kurzes, aber regelmäßiges Aussteigen aus dem Autopiloten werden wir uns mit der Zeit automatisch zurückbesinnen auf das Wesentliche. Meist sind das “Dinge” die kein Geld kosten, die man gar nicht kaufen kann, die uns nicht nur kurzfristiges Glück bescheren, sondern langfristig zufrieden machen. Vielleicht bringt es Zufriedenheit, etwas Gutes zu tun, wie zum Beispiel sich ehren- amtlich zu betätigen oder einen neuen Weg einzuschlagen, wie eine Ausbildung zu beginnen oder eine neue Sprache zu lernen.

Die Menschen auf Bali, einer hinduistisch geprägten Insel in Indonesien, beginnen jeden Morgen gleich: Sie befüllen kleine handgeflochtene Körbchen mit Blüten und Früchten und entzünden ein Räucherstäbchen in dessen Mitte. Diese Opfergabe hat (vereinfacht erklärt) den Zweck, böse Geister, die an diesem Tag auftauchen könnten, fernzuhalten. Sie hoffen, dass der kommende Tag viele neue und gute Überraschungen bereithält. Sie wissen ja nicht, was alles passieren wird an diesem Tag. Denn an einem einzigen Tag kann alles geschehen.

Wir werden an einem Tag geboren, wir treffen an einem Tag die Liebe unseres Lebens, wir treten an einem Tag einen neuen Job an, wir erlernen etwas Neues und wir sterben auch an einem Tag. Der Ablauf eines Tages ist ungewiss und manchmal auch magisch, wenn wir ihn achtsam begehen.

Dieser Beitrag von Yvonne L. Schröder ist erschienen im Magazin FREUDE von Sonnentor, 2019

ACHTSAMKEITSTIPP
Lege ein Stück Brot auf die Zunge – aber bitte noch nicht kauen. Spüre zuerst, wie sich das Brot auf der Zunge anfühlt.
Gibt es schon einen Geschmack, ist das Brot weich, hart? Und nun kaue einmal und nimm wahr, was in Ihrem Mund geschieht.
Was verändert sich? Kaue nun das Stück Brot zehn Mal ganz achtsam. Lege dann eine kleine Pause ein und spüre wieder. Was schmeckst Du? Hat sich der Geschmack verändert? Wo genau im Mund schmeckst Du? Ist Dein Mund warm oder kühl?
Wie fühlt sich das Brot jetzt an? Ist es noch da oder sind es nur noch kleine Reste? Nimm alles und nimm Dir für diese kleine Übung mindestens fünf Minuten Zeit.

EIN KOAN*
Ein Zen-Schüler fragt seinen Meister:
„Was unterscheidet den Zen-Meister von einem Zen-Schüler?“
Der Zen-Meister antwortet: „Wenn ich gehe, dann gehe ich. Wenn ich esse, dann esse ich. Wenn ich schlafe, dann schlafe ich.“
„Wieso? Das mache ich doch auch.“ Der Zen- Meister antwortet: „Wenn du gehst, denkst du ans Essen, und wenn du isst, dann denkst du ans Schlafen. Wenn du schlafen sollst, denkst du an alles Mögliche. Das ist der Unterschied.“

*Ein Koan ist ein logisch nicht lösbares Problem, das dem Meditationsschüler vom Zen-Meister für seine Meditation als Übung gegeben wird.

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